Zu Gast in der ersten Aargauer Notschlafstelle
- Mittellose Menschen ohne Obdach können für 5 Franken pro Nacht eine warme Mahlzeit beziehen und ruhig und sicher schlafen.
- Bereits nutzen einige dieses Angebot. Horizonte war an einem Abend zu Besuch.
- Die Nachfrage nach einem Schlafplatz ist gross – Radio Interview SRF
Weitere Informationen zur Notschlafstelle.
Die Klingel ertönt und Susanne Horvath (ehem. Leiterin der ersten Aargauer Notschlafstelle) gewährt Einlass. Sie freut sich, dass bereits einige Bedürftige das Notschlafstellenangebot regelmässig nutzen. Vor der Tür steht David. Schon seit ein paar Tagen bewohnt der 32-jährige ein Zimmer der Notschlafstelle. Heute hat er einen Brokkoli und einen Sack Reis unter dem Arm. David kämpft sich damit die Treppen hoch bis in den 3. Stock. Hier in der Küche will er für seine «neue Familie» kochen. Seine Familie, das sind jetzt die Mitarbeiter der Notschlafstelle, die freiwilligen Helfer und die Gäste.
Gemeinsames Essen und die Frage nach dem Selbstschutz
Leiterin Susanne Horvath: «Wir sind kein Hotel»
Alle packen mit an. Während die Helferin Ruth den Tisch deckt, verarbeitet David einen Kürbis, den soeben ein weiterer Gast mitgebracht hat. Es ist Bettina. Die frühere Schriftsetzerin spricht viel über ihren ehemaligen Beruf. 33 Jahre lang lebte sie in Zürich in einer kleinen Wohnung. Seit drei Wochen steht sie auf der Strasse. Weshalb es dazu gekommen ist und wieso sie keinen Job mehr hat, bleibt für uns ein Rätsel. Dass die Besucher selbständig den Kochlöffel schwingen, ist vor allem dem Hobbykoch David zu verdanken.
Während die Zwiebeln brutzeln und die Töpfe klappern, beziehen die letzten Gäste noch schnell ihre Betten vor dem Essen. «Wir sind kein Hotel», bestätigt Susanne Horvath mit einem Augenzwinkern. Die Gäste müssen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mithelfen und lernen, Verantwortung zu übernehmen. So stehen beispielsweise im Keller Waschmaschine und Tumbler. Wer waschen möchte, muss dies selbst tun. Die Mitarbeiter stehen mit Rat und Tat zur Seite.
Alternative zum Leben im Wald
Seit dem ersten Tag wird die Notschlafstelle von Bedürftigen aufgesucht. «Wir haben zwölf Betten zur Verfügung», bestätigt Susanne Horvath mit einem gewissen Stolz in ihrer Stimme. Sechs gehören zur Notpension, welche über längere Zeit genutzt werden darf. Die weiteren sechs Betten sind für Gäste der Notschlafstelle reserviert. Letztere müssen tagsüber die Unterkunft verlassen. Am heutigen Abend sind drei Gäste gekommen – darunter David und Bettina.
David wird die Notunterkunft früh am Morgen wieder verlassen, um zu seiner Strickgruppe zu fahren. Er hat das Handwerk mit Wolle und Nadel erst frisch erlernt und arbeitet gerade an einem Schal für den kommenden Winter. «Das wird kalt», befürchtet David. Er hofft, bis dahin eine eigene Bleibe, beispielsweise ein WG-Zimmer, gefunden zu haben und nicht mehr wie früher im Wald Unterschlupf suchen zu müssen. Dabei hilft ihm seine Sozialberaterin, welche er regelmässig besucht. «Wenn das klappt, koche ich am Abend für meine neuen Mitbewohner», malt es sich David aus und ist zuversichtlich, dass er dann endlich wieder in den normalen Alltag zurückfindet. «Wir sind immer bestrebt, für unsere Gäste Anschlusslösungen zu finden», erklärt Susanne Horvath.
Sorgen der Nachbarschaft: Unruhe und Drogenkonsum
Ich verlasse die Notschlafstelle kurz vor Mitternacht um meine Sachen ins Auto zu packen. Es ist ruhig um mich herum, fast zu ruhig. Schliesslich befinde ich mich mitten in der Stadt Baden. Da, wo die Leute normalerweise im Café sitzen oder die Nachbarn untereinander einen Schwatz abhalten.
Genau diese Nachbarn hatten zu Beginn des Projektes grosse Bedenken. Unruhe, Drogenkonsum oder betrunkene Randalierer waren die Sorge der Anwohner. Bis jetzt, so bestätigt die Leiterin, ist es nicht soweit gekommen. «Wenn jemand Ärger macht, so rufen wir sofort die Polizei. Wir sind stets bedacht darauf, dass die Nachbarschaft nicht belästigt wird».
Polizei: Bis jetzt kein Einsatz erforderlich
Auch die Polizei bestätigt uns, dass es in den ersten Wochen seit der Eröffnung nicht zu einem Einsatz gekommen ist. Eine Passantin, die soeben noch an mir vorbei huscht und den Weg in ihr eigenes warmes Zuhause sucht, erzählt, dass die anfängliche Sorge unbegründet gewesen sei.
Kurz bevor ich den Zündschlüssel ins Schloss stecke, schaue ich noch einmal zum Fenster von David hoch. Die Lichter sind aus, David schläft. Für heute Nacht an einem sicheren Ort, geborgen auf einer weichen Matratze unter der warmen Bettdecke. In Gedanken wünsche ich ihm leise «Gute Nacht».
Die Notschlafstelle ist eröffnet:
Die Notschlafstelle und Notpension in Baden, die seit dem 1. September 2019 eröffnet ist, füllt eine Lücke im Betreuungsnetz des Kantons Aargau. Obdachlosen Menschen kann jetzt unbürokratisch und schnell eine Übernachtungsmöglichkeit angeboten werden. Im Angebot inbegriffen ist übernachten im Zweierzimmer, Wäsche waschen und Essen inkl. Frühstück und Mittagessen. Die anknüpfende Sozialberatung versucht, Anschlusslösungen zu finden oder die Besucher mit wichtigen Stellen zu vernetzen. Eine gute Möglichkeit ist die an die Notschlafstelle anschliessende Betreuungslösung in der Notpension, die langfristige Übernachtungsmöglichkeiten bietet mit Kostenträger.
In der Notschlafstelle halten sich verschiedenste Menschen auf. Viele sind suchtbetroffen, psychisch beeinträchtigt oder einfach momentan nicht in der Lage, die Lebenssituation in den Griff zu bekommen. Betreut werden sie durch eine Fachperson und eine freiwillige Person. Ca 30 Freiwillige , oft fachlich versierte Personen, helfen so mit, die hohen Kosten des hauptsächlich spendenabhängigen Angebotes zu reduzieren. Weitere Freiwillige werden gesucht.
Flyer Notschlafstelle allgemein
Es ist 20.00h. Die Glocke läutet an der oberen Halde 23 in Baden, der einzigen Notschlafstelle im Aargau. Ernst wird von den zwei Betreuern, einer Fachperson und einer Freiwilligen begrüsst. Man kennt ihn schon, er war die letzten zwei Nächte auch da. Ernst bezieht sein Zimmer und bringt die schmutzige Wäsche dem Betreuer, dass sie gewaschen wird. Dann wechselt er in den Aufenthaltsraum mit Küche. Dort ist schon die Freiwillige dabei, ihm ein Nachtessen zuzubereiten. Sie ist berufliche Psychiatriepflegerin und ist so froh, dass es endlich dieses Angebot gibt, dass sie ihre Zeit investieren will, um die Notschlafstelle zu sichern.
Ernst ist drogenabhängig. Er hat viele Abszesse auf der Haut. Der Betreuer verbindet seine Wunden. Mittlerweilen haben sich mehrere weitere Besucher dazu gesellt. Viele sind suchtbetroffen, psychisch beeinträchtigt oder einfach momentan nicht in der Lage, die Lebenssituation in den Griff zu bekommen. Nun wird es gemütlich. Die Unokarten tauchen auf, es wird gespielt, diskutiert, gegessen.
Spät löst sich die Gruppe auf, die Bewohner gehen schlafen. Das Team reinigt und desinfiziert gemäss Reinigungsplan die sanitären Einrichtungen. Um 24.00 werden sie abgelöst vom Nachtteam. Am Morgen spazieren einige Besucher ins HOPE zum Frühstück und Sozialberatung. Auch Ernst ist dabei. Ob er einen neuen Weg findet?
Das Angebot Notschlafstelle ist hoch spendenabhängig. Verantwortlich ist der Verein Notschlafstelle Aargau. Dieser Verein setzt sich zusammen aus der kath. Kirche im Aargau, der ref. Kirche Baden, dem Beratungszentrum Plus in Baden und HOPE Christliches Sozialwerk. HOPE leitet das Angebot operativ.
Daniela Fleischmann, Hope | daniela.fleischmann@hope-baden.ch
Kurt Adler-Sacher, Fachstelle Diakonie, Präsident Verein Notschlafstelle | kurt.adler@kathaargau.ch
Die Gründung:
Menschen, die keine geregelte Wohnsituation haben und mittellos sind, hatten im Kanton Aargau bislang kaum eine Möglichkeit, kurzfristig und unbürokratisch ein warmes Bett zu bekommen. Das wird sich nun ändern: Nach langjährigen Bemühungen geht am 1. September an der oberen Halde 23 in Baden eine Notschlafstelle in Betrieb.
Interview Radio SRF 1 Regionaljounal Aargau-Solothurn
Der Grundstein für die erste Notschlafstelle im Kanton wurde gestern Abend mit der Gründung des Vereins Notschlafstelle Aargau gelegt. Die Trägerschaft besteht aus Vertretern der römisch-katholischen Landeskirche Aargau, der reformierten Kirche Baden sowie dem christlichen Sozialwerk Hope Baden, wobei Letzteres die Notschlafstelle mit einem Leistungsauftrag betreiben wird. «Wir sind erleichtert, dass wir den Menschen in Not eine Möglichkeit geben können, sicher und würdig zu übernachten», sagt Kurt Adler, Leiter Fachstelle Diakonie der römisch-katholischen Kirche Aargau und Co-Präsident des neu gegründeten Trägervereins.
In der Unterkunft wird es insgesamt zwölf Schlafplätze geben: Sechs Betten stehen in der Notschlafstelle zur Verfügung. Hier können Obdachlose bis zu zwei Wochen nächtigen. Weitere sechs Plätze für langfristige Schlafmöglichkeiten gibt es in der Notpension, die sich im selben Gebäude befindet und von «Hope» eingerichtet wird. Sowohl Notschlafstelle als auch Notpension sind an sieben Tagen von 19 bis 9 Uhr geöffnet. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden dabei von einer Fachperson und einer freiwilligen Hilfsperson betreut. Auch erhalten sie ein Nachtessen und ein Frühstück; tagsüber können sie sich im «Hope» aufhalten und bei Bedarf das Mittagessen beziehen.
Dass mittellose Menschen Rückhalt haben, ist dem Trägerverein sehr wichtig, wie Adler sagt: «Wir möchten, dass sie bei uns Wärme spüren. Nicht nur im Winter durch ein warmes Bett, sondern auch durch Sicherheit und Geborgenheit.» Denn oftmals würden Obdachlose durch ihre Lebenssituation ihre Kompetenzen verlieren, beispielsweise im sozialen Bereich. «In der Notschlafstelle können sie sich vernetzen und sich mit Fachpersonen austauschen. Darüber hinaus haben Bewohner bei uns die Möglichkeit, eine Sozialberatung in Anspruch zu nehmen», fügt Daniela Fleischmann, Geschäftsleiterin von «Hope», hinzu.
Kosten: 80 Prozent gesichert
Der Betrieb von Notschlafstelle und Notpension kostet jährlich 380’000 Franken, wobei die Kosten zur Hälfte aufgeteilt werden: Die Notpension finanziert sich durch Kostenträger wie Sozialhilfe oder IV. Die Notschlafstelle hingegen wird durch verschiedene Stiftungen, Kirchen, Vereine und Private getragen. «Dank zahlreicher Zusagen können bereits 80 Prozent der für die dreijährige Pionierphase nötigen Mittel gedeckt werden», sagt Kurt Adler. Es sei schön, dass das Projekt Notschlafstelle bei den verschiedenen Institutionen auf Zuspruch stosse. «Nun hoffen wir, dass sich auch die Bevölkerung offen dafür zeigt. Um sie frühzeitig einzubinden, wird es im März eine Infoveranstaltung geben.»
Damit die Notunterkunft ihren Betrieb starten kann, wird das Gebäude an der oberen Halde in den kommenden Monaten umgebaut. Sofern die Restfinanzierung gelingt, kann die Bevölkerung am 31. August am Tag der offenen Tür die einzige Notschlafstelle im Kanton persönlich erkunden.
Projekt Pfuusbus 2014 eingestellt
In Baden gab es in Vergangenheit bereits Bestrebungen, eine Notschlafstelle ins Leben zu rufen, etwa mit dem Projekt «Pfuusbus». Weil aber unter anderem kein geeigneter Standort gefunden werden konnte und die Bereitschaft der Gemeinden fehlte, sich an den Kosten solidarisch zu beteiligen, wurde das Projekt 2014 eingestellt.
Bild und Text: Carla Stampfli | az Aargauer Zeitung
Die Reformierte Kirchgemeinde Baden engagiert sich für die Notschlafstelle
Die Kirchenpflege hat Sozialdiakon Jürg Hermann für die Mitarbeit beim Aufbau des Vereins Notschlafstelle Aargau bestimmt. Sie wird sich zukünftig auch finanziell an den Betriebskosten der Notschlafstelle im Haus Erhart engagieren.
Jürg Hermann, Sozialdiakon